GALERIE
Erinnerungen an besondere Ereignisse, an Begegnungen mit grossen Komponisten, Anekdoten, Vorlieben, Lektüren, Freundschaften... Subjektive Eindrücke...
Pierre Boulez' Zyklus Pli selon pli hat mich während meiner ganzen Studienzeit beschäftigt: bis dreimal täglich hörte ich die 70 Minuten Musik an, in grösster Verehrung. Im Studium habe ich eine Seminararbeit darüber verfasst, nach einem Besuch in der Paul-Sacher-Stiftung, wo ich zum ersten Mal in meinem Leben erfuhr, was Skizzenarbeit an einem grossen Werk heisst. Bis ich das Werk endlich live hören durfte, vergingen Jahre. Auch auf eine Aufführung von Répons musste ich mich lange gedulden. In der Zentralbibliothek Zürich lag eine Aufnahme mit einem Ausschnitt von wenigen Sekunden vor (Eintritt der Solisten), der mich elektrisierte.
Boulez' Texte, besonders Penser la musique aujourd'hui, Jalons, haben mein frühes Denken lange angeregt.
Erst viele Jahre später durfte ich ihn persönlich kennenlernen. Ich versprach ich ihm eine Gesamtaufführung, jene von Pli selon pli, die wir ihm einen Tag vor Griseys Espaces acoustiques, am 7. November 2003 ermöglichen konnten. Boulez stand selber am Dirigentenpult; es war eine der letzten Aufführungen mit vollständigem Tombeau unter seiner Leitung. Direkt vor dem Konzert kam es zu einem legendären Interview mit ihm.
Mein Werk Esquisse : « le froid » ist dem Andenken an Pierre Boulez gewidmet.
Brian Ferneyhoughs Musik war in mehreren Jahrgängen der Tage für Neue Musik präsent, besonders 1996, wo wir seinen grössten Zyklus, Carceri d'invenzione aufführten. Auch alle drei Time and motion studies waren zu hören.
Mit Ferneyhough traf ich oft zusammen, besonders, als ich für tHEL danse das Eröffnungsstück der Carceri – Superscriptio für Piccolo solo – einstudierte. Ich erinnere mich an eine Probe mit ihm im Ircam, in trockenster Akustik. Ich hatte das Stück mit einer eigens von mir programmierten Metronom-App einstudiert. Plötzlich wies mich Ferneyhough darauf hin, dass ich die Zehntelnoten in einem Takt zu schnell spielte. Meine sichtliche Enttäuschung war nicht angebracht, er hatte Recht. “Wenn jemand sich die Mühe gebe, sein Werk genau einzustudieren, dann könne er jede Genauigkeit erwarten...”
Gérard Grisey arbeitete im Sommer 1997 in Graubünden an seinem letzten Meisterwerk, den Quatre chants pour franchir le seuil. Da brauchte er für drei Tage einen Assistenten, der sich mit den Programmen des Ircam auskannte. So war ich für einige Berechnungen spektraler Transformationen sein Assistent, Mittags auch sein Koch. Da versprach ich ihm, einst seinen Zyklus Les espaces acoustiques gesamt aufführen zu lassen, ein Versprechen, das ich ihm als künstlerischer Leiter der Tage für Neue Musik, am 8. November 2003, mit dem Tonhalle-Orchester Zürich erfüllen durfte.
Ein grosser Freund, über viele Jahre. Gegenseitige Besuche, seine Musik an mehreren Ausgaben der Tage für Neue Musik Zürich. Was ihn bestimmt unterstützte, nach seiner Erkrankung die Kompositionstätigkeit wieder aufzunehmen und viele neue Werke zu schreiben. Als Vorbereitung zu "seinem" Festival, 1999, der gemeinsame Aufenthalt in Paris: Proben des 3. Streichquartetts - Dialektische Fantasie, mit dem Quatuor Diotima. Die unglaublichen Aufführungen von Epiphyt (Sylvie Lacroix und das Klangforum Wien) und der Violinsonate mit David Alberman...
Erinnerungen an viele gemeinsame Momente, an den Tagen für Neue Musik Zürich – Mouvement (- vor der Erstarrung), Gran Torso und Reigen seliger Geister (der schwierige Entscheid, trotz Lärm über dem Konzertsaal die Aufführung mit dem Berner Streichquartett zu starten), später Staub für Orchester usw. –, in Stuttgart, und 1999 in Baden: ich wollte auf die Lägern (Hügelkette des Jura bei Baden) steigen, hatte aber meine Bergschuhe nicht dabei. Lachenmann ging zu seinem Auto und bot mir seine an. Sie waren mir aber viel zu gross...
Die Glarner Berge, besonders die Region um die Fessisseeli, als Quelle neuer Kräfte und Ideen...
Zu meiner Zeit am Ircam mehrere Besuche bei Kaija Saariaho in ihrer Wohnung neben dem Centre Pompidou, zur Planung ihrer Werke an den Tagen für Neue Musik. Ihr Orchesterwerk Verblendungen war Teil des ersten Konzerts, welches das Tonhalle Orchester Zürich zu diesem Festival beisteuerte, im November 1996. Da Kaija anderer Verpflichtungen wegen vorzeitig abreisen musste, hatte ich das Vergnügen, die Stücke Petals und ...de la Terre (Door) an der Elektronik mitzugestalten.
Stockhausens frühe Schriften zur Musik waren für mein Schaffen von grosser Bedeutung. Wie die Zeit vergeht… – ein fundamentaler Text zur Neuen Musik. Persönlich traf ich ihn bei Proben zu MIXTUR in Köln (Ensemble Köln, Robert HP Platz). Ich durfte damals den "Ringmodulator Blech" bedienen. Als er ausrief, dass "der Mann am Ringmodulator Blech nichts tauge, man höre nichts von der Modulation", konnte ich zum Glück antworten, dass die Probe begonnen hatte, bevor der Modulator verkabelt war…
Zweimal durfte ich Stockhausens Musik im Konzert programmieren, KREUZSPIEL mit dem Ensemble S Zürich, und MANTRA an den Tagen für Neue Musik Zürich.
Leider war mir erst spät klar, wie bedeutend sein monumentales Werk LICHT ist. Bis ins Jahr 2018 habe ich sämtliche (Ur-) Aufführungen davon verpasst. Erst nach einer Aufführung von TRANS (2018) und den Aufführungen "AUS LICHT" in Amsterdam (2019) realisierte ich, dass diese Musik eine der umfassendsten ist, die je geschrieben wurde. Ich war während all den Jahren Klischees und Vorurteilen gegen Stockhausen auf den Leim gegangen. Heute halte ich ihn für den grössten Komponisten der Neuzeit. Er teilt ja auch den Geburtstag mit Claude Debussy, jeden 22. August...
Die Schriftstellerin, die ab 1991 mein ganzes Schaffen bedingte – mein gesamtes kompositorisches Denken wurde von ihren Texten inspiriert. Diese lernte ich 1989 während meines Jahres an der Université d'Aix-en-Provence in einem Seminar von Jean-Marie Gleize kennen, und dazu die ganze moderne Poesie in ihrem Umfeld. In der Revue NIOQUES von Gleize durfte ich erste Skizzen eines geplanten Werks publizieren, direkt neben einem Text von André du Bouchet. Nach deren Lektüre trat Anne-Marie Albiach mit mir in Kontakt; eine jahrelange Freundschaft begann. Ich nahm ihre private Lesung wichtiger Texte auf, « H II » linéaires, und UNE GÉOMÉTRIE.
Eine lustige Erinnerung: unsere Eskapade in die Cité de la musique – Boulez dirigierte Répons –, wo Anne-Marie während der Pause mit ihrer Zigarette einen Feueralarm auslöste...
Das geplante Werk – « monstrueuse vécut dans le cadre » la mémoire, Auftrag des Ensemble Intercontemporain – wurde 2004 realisiert und im Ircam uraufgeführt. 2005-07 folgte der Zyklus « une géométrie », und 2016 Esquisse : « le froid ».
Die grösste Verehrung, die ich je für Künstler hegte, gilt dem Schriftsteller Stéphane Mallarmé und dem Komponisten Claude Debussy – die Oper Pelléas et Mélisande ist schlicht ein Weltwunder. Ihr Einfluss auf mein Denken und meine Sensibilität ist unermesslich und erlaubt keine weiteren Worte.
Nur das eine: Ich habe das Glück, den wichtigsten Mallarmé-Experten, Bertrand Marchal, persönlich zu kennen und lasse es mir nicht nehmen, ihm jeden 18. März zu Mallarmés Geburtstag zu gratulieren… Sein Buch La religion de Mallarmé ist die Summe der Mallarmé-Kenntnis.
Mit Charles Racines Poesie verbindet mich die lange und tiefe Freundschaft mit seiner Witwe und Herausgeberin Gudrun Racine. Ihr Vertrauen in mein Schaffen stützt mich seit dem Jahr 2006. Racines konzise Texte liegen zwei Werken zugrunde, « lueur de lettres » und « chant de lettres ». Sein Gespräch mit Jean Daive in der Sendung “poésie ininterrompue” von France Culture ist legendär... Ich durfte es in Bilder und meine Musik eingebettet herausgeben.
In Genf ist die Firma Racine Café ansässig. Sie produziert sublimen, intensiven Kaffee (“Notre café – un instant de poésie”). Bis 2022 wurde er nicht an Private verkauft, die Firma – ihr Chef: ein Melomane – erlaubte mir aber dennoch, ihn zu beziehen… Jetzt ist er für alle käuflich.
Parallel zu Jean-Marie Gleize – 1989 an der Université d'Aix-en-Provence – hielt seine Frau Joëlle Gleize ein Seminar über Claude Simons Les Géorgiques. Dieser grosse Roman wurde zum Ausgangspunkt für mein Triptychon « les géorgiques »: « tellement froid que » (géorgiques I), « comme si le froid » (géorgiques II) und « n'était le froid » (géorgiques III).
Ich traf Simon – vermittelt durch Lucien Dällenbach – nach einem seiner Auftritte an der ETH Zürich (1996?) und erzählte ihm von meinem Projekt. Er hat sich aber nicht dafür interessiert… 1998 schrieb ich im Auftrag der Zeitschrift DU einen Artikel, der in der Simon-Nummer im Januar 1999 publiziert werden sollte. Er wurde aber als "zu anspruchsvoll für die Leser von DU" eingeschätzt und nicht veröffentlicht. Diese Begründung war mir schon immer suspekt; heute denke ich, dass Simon selbst eine Veröffentlichung des Artikels in "seinem" DU verhindert hatte.
Claude Simon ist für mich der grösste Romanautor der Neuzeit.
Der grosse Freund seit den Zeiten im Akademischen Orchester. Eine der moralischen Stützen meiner Arbeit, in allen Belangen. Er findet den verstecktesten Winkel im Internet: Informationen über Debussy, Mallarmé, Stockhausen, über alles, was mich interessiert. Oder bisher noch nicht interessierte. Von ihm die Anregungen zu Miles Davis, Arno Schmidt (wann endlich liest auch Markus Zettels Traum?). Mit ihm Reisen u.a. nach Metz (1989, Boulez: Éclat/Multiples, Le visage nuptial, Le soleil des eaux… und nicht Pli selon Pli, wie erhofft), Stuttgart (Lachenmann, Das Mädchen mit den Schwefelhölzern), Lille (2022, Stockhausen, FREITAG aus LICHT) und Schiltwald, zu Ehren unserer gemeinsamen Bewunderung für Hermann Burger. Markus ist in Burgers Die künstliche Mutter kurios vorweggenommen...